Reisebericht Kosice, Transkarpatien und Lemberg
Auf den Spuren der europäischen Kultur einst und jetzt
Sa 29.6.2013 bis So 7.7.2013
Ukraine versucht Spagat zwischen EU und Russland
Lemberg (APA) – Das Gerichtsgebäude im ukrainischen Lemberg ist ganz im Wiener Ringstrassenstil gebaut. Doch vom Doppeladler im ovalen Medaillon, der einstmals hoch oben an der Fassade stolz die Flügel ausbreitete, zeugen nur noch schattenhafte Umrisse und ein paar verrostete Schrauben. Für die Hauptstadt des früheren Galizien ist die Vergangenheit unter der Donaumonarchie nur mehr eine ferne Erinnerung. Zu oft wechselte das Land von einer Fremdherrschaft zur anderen. Die Selbstständigkeit hat der Ukraine nach dem Zerfall der Sowjetunion nicht die erhoffte Demokratie gebracht, dafür aber die sozialen Probleme verschärft.
Galizien gehörte von 1772 bis zum Ersten Weltkrieg zur Habsburger Monarchie. Lemberg war die fünftgrösste Stadt im Riesenreich. Vor allem nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich 1867 kam es zu einem Bauboom. Bekannte Wiener Architekten errichteten die eleganten Historismus- und Jugendstilgebäude, die noch heute das Stadtbild prägen. Frisch renovierte barocke Adelspaläste und Bürgerhäuser umsäumen den weiträumigen Marktplatz mit dem imposanten Rathaus, das Herzstück Lembergs. Abends tummeln sich dort zahlreiche junge Leute und bevölkern die vielen Bars und Cafes. Hübsche Mädchen in langen Kleidern mit Puffärmeln, Reifröcken und Biedermeier-Häubchen verkaufen Zuckerstangen in den Strassen. In manchen Cafes hängen Porträts von Kaiser Franz-Josef. „Das ist die neue Nostalgiewelle“, erklärt der Stadtführer. Deutsch ist noch immer Lehrfach in allen Schulen. Den k. u. k. Zeiten verdankt Galizien auch das Eisenbahnnetz. Die Verbindung Wien-Lemberg wurde am 4. November 1861 eingeweiht. Im prunkvollen Jugendstil-Bahnhof erinnert eine Gedenktafel in holprigem Deutsch daran: „Das hat den Anfang des Bahnverkehrs in heutzutägige Ukraine gemacht.“
Dass Galizien in der Donaumonarchie einen schlechten Ruf hatte, weil Offiziere dorthin strafversetzt wurden, ist in dieser lebendigen und liebenswürdigen Stadt schwer nachzuvollziehen. Aber der Schein trügt. Das Durchschnittseinkommen in der Ukraine liegt bei 250 Euro monatlich, Pensionisten müssen mit 80 bis 100 Euro überleben. Auch wenn die Preise niedriger sind als in Österreich, reicht das nicht weit. Das Gesundheitssystem ist zusammengebrochen, eine staatliche Krankenversicherung gibt es nicht mehr. Ärzte müssen in bar bezahlt werden, damit sie operieren.
Die Folge ist eine massive Auswanderungswelle. Sie setzte mit dem wirtschaftlichen Niedergang der 90er Jahre ein, als die Ukraine selbstständig wurde.2008 lebten nach Schätzung der Caritas 500,000 Ukrainer in Italien, 450,000 in Polen, je 200,000 in Spanien und Tschechien und bis zu zwei Millionen in Russland, nur etwa ein Drittel davon legal. Die Rücküberweisungen betrugen laut Weltbank 2010 mehr als fünf Milliarden Dollar. Sie tragen damit hohe 4 Prozent des Bruttosozialprodukts bei.
Die Kehrseite der Auswanderung: Nicht nur Studenten, die auf eine bessere Zukunft hoffen, verlassen das Land. Rund ein Drittel der Menschen wandern aus finanzieller Not aus, nicht zuletzt viele Mütter, die im Westen in der Alterspflege tätig sind. Zurück bleiben die so genannten „Euro-Waisen“. Es sind Kinder, die von den Grosseltern erzogen werden müssen, in Heimen untergebracht werden oder schlimmstenfalls auf der Strasse landen, mit allen damit verbundenen Problemen wie Drogensucht oder Alkoholismus. Nach Angaben der ukrainischen Caritas leben derzeit rund 150,000 Kinder auf der Strasse. Von den Arbeitsmigranten kommt laut einer Analyse der Universität Marburg nur etwa ein Viertel dauerhaft zurück. Da viele illegal in den EU-Ländern leben, können sie eine zeitweilige Rückkehr in die Ukraine nicht riskieren. Die Ukraine selber bietet den Rückkehrern kaum Hilfe an. Die Hoffnung vieler richtet sich daher auf einen EU-Beitritt des Landes.
Der EU-Beitritt gehört seit 1996 zu den Zielen Kiews. Bisher hat sich Brüssel allerdings wenig entgegenkommend gezeigt. Ein autokratisches Regime, Korruption auf allen Ebenen und die von den Machthabern abhängige Justiz sind die Hauptgründe für die Zurückhaltung der EU, vielleicht auch politische Bedenken, Moskau damit zu sehr zu provozieren. Immerhin gelang es der pro-westlichen Regierung Juschtschenko 2005, die Aushandlung eines politischen und wirtschaftlichen Assoziierungsabkommens mit der EU zu lancieren. Brüssel ist vorerst jedoch nur bereit, den wirtschaftlichen Teil des Abkommens im November in Vilnius (Litauen) bei einem Gipfel der östlichen Partnerschaft zu unterzeichnen. Der politische Teil, der u.a. die ersehnte Visumsfreiheit für die Ukrainer vorsieht, wurde auf Eis gelegt. Eine der Vorbedingungen für den Abschluss des Abkommens, die vor allem von Deutschland erhoben wird, ist die Freilassung der Oppositionsführerin Julia Timoschenko. Ausserdem verlangt die EU eine Justizreform und einen Wahlkodex.
Unter Druck ist die Ukraine auch durch Russland geraten, welches das Land in seine eigene Zollunion holen möchte. Beides zusammen geht allerdings nicht. Die Ukraine muss daher einen fast unmöglichen Spagat zwischen Moskau und Brüssel versuchen. Der russische Präsident Vladimir Putin plant bis 2015 die Schaffung einer „Eurasischen Wirtschaftsunion“, zu der bisher neben Russland auch Weissrussland und Kasachstan gehören. Nicht zuletzt die ukrainische Abhängigkeit vom russischen Gas nutzt Putin, um das Land unter Druck zu setzen. Kiew liess sich immerhin weich klopfen, einen „Beobachterstatus“ in der Zollunion zu beantragen.
Wie weit die Ukraine von westlichen Standards entfernt ist, zeigt die derzeitige politische Lage. Seit zwei Jahren wird das Land von „der Familie“ gelenkt, die es rücksichtslos ausbeutet. Gemeint ist der Clan um Präsident Viktor Janukowitsch. Die „orange Revolution“ war nur eine kurze Episode gewesen. Von der Aufbruchstimmung des Jahres 2004 ist nicht mehr viel zu spüren. „Klare Rückschritte“, nachdem Janukowitsch im zweiten Anlauf die Wahlen gewonnen hatte, diagnostiziert denn auch ein ukrainischer Journalist, der nicht namentlich genannt sein möchte. Janukowitschs „Partei der Regionen“ beherrsche alles, obwohl sie die Wahlen 2010 verloren hatte und auch mit ihrem Koalitionspartner, den Kommunisten, nicht über die Mehrheit im Parlament verfügt. Dass sie trotzdem am die Macht kam, verdankte sie einem Gerichtsurteil, laut dem das „Wahlresultat nicht festgestellt werden konnte.“ Und dies, obwohl die Opposition praktisch in allen Wahlkreisen gesiegt hatte.
Auch von einer Marktwirtschaft könne nicht wirklich gesprochen werden, meint der Journalist. Die neuen Oligarchen im Umkreis des Präsidenten haben von den wilden Privatisierungen nach dem Ende der Planwirtschaft profitiert und kontrollieren heute rund 90 Prozent der Wirtschaft. Allerdings herrscht wenig Transparenz. Die Oligarchen erwerben Unternehmen häufig über Mittelsmänner. Ausländische Bieter werden ausgeschlossen. Manche Betriebe wurden absichtlich in die Pleite getrieben, um sie nachher billig erwerben zu können. Wettbewerb ist unerwünscht.
Dass die Justiz von der Regierung zu einem willfährigen Instrument der Machthaber degradiert wurde, zeigt der „Fall Julia Timoschenko“. Der Journalist sieht in der Inhaftierung der früheren Ministerpräsidentin eine „moderne Hexenverbrennung“. Mit ihren Protestaktionen habe diese Janukowitsch 2004 eine Wahlniederlage beschert, für die er sich nun räche. Eine Ablösung des derzeitigen Regimes auf demokratischem Wege halten politische Beobachter für sehr schwierig. Zu viel stehe für die Machthaber auf dem Spiel, nicht nur politische, sondern auch massive wirtschaftliche Interessen. Von den drei Oppositionsparteien ist diejenige des Berufsboxers Klitschko am populärsten. Obwohl der zwei Meter grosse Sportler nicht mit politischer Erfahrung punkten kann, gilt er bei vielen Ukrainern heute als Hoffnungsträger. Ein zweiter „ukrainischer Frühling“ scheint aber in weiter Ferne.
Denise Cles
Lemberg (APA) – Das Gerichtsgebäude im ukrainischen Lemberg ist ganz im Wiener Ringstrassenstil gebaut. Doch vom Doppeladler im ovalen Medaillon, der einstmals hoch oben an der Fassade stolz die Flügel ausbreitete, zeugen nur noch schattenhafte Umrisse und ein paar verrostete Schrauben. Für die Hauptstadt des früheren Galizien ist die Vergangenheit unter der Donaumonarchie nur mehr eine ferne Erinnerung. Zu oft wechselte das Land von einer Fremdherrschaft zur anderen. Die Selbstständigkeit hat der Ukraine nach dem Zerfall der Sowjetunion nicht die erhoffte Demokratie gebracht, dafür aber die sozialen Probleme verschärft.
Galizien gehörte von 1772 bis zum Ersten Weltkrieg zur Habsburger Monarchie. Lemberg war die fünftgrösste Stadt im Riesenreich. Vor allem nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich 1867 kam es zu einem Bauboom. Bekannte Wiener Architekten errichteten die eleganten Historismus- und Jugendstilgebäude, die noch heute das Stadtbild prägen. Frisch renovierte barocke Adelspaläste und Bürgerhäuser umsäumen den weiträumigen Marktplatz mit dem imposanten Rathaus, das Herzstück Lembergs. Abends tummeln sich dort zahlreiche junge Leute und bevölkern die vielen Bars und Cafes. Hübsche Mädchen in langen Kleidern mit Puffärmeln, Reifröcken und Biedermeier-Häubchen verkaufen Zuckerstangen in den Strassen. In manchen Cafes hängen Porträts von Kaiser Franz-Josef. „Das ist die neue Nostalgiewelle“, erklärt der Stadtführer. Deutsch ist noch immer Lehrfach in allen Schulen. Den k. u. k. Zeiten verdankt Galizien auch das Eisenbahnnetz. Die Verbindung Wien-Lemberg wurde am 4. November 1861 eingeweiht. Im prunkvollen Jugendstil-Bahnhof erinnert eine Gedenktafel in holprigem Deutsch daran: „Das hat den Anfang des Bahnverkehrs in heutzutägige Ukraine gemacht.“
Dass Galizien in der Donaumonarchie einen schlechten Ruf hatte, weil Offiziere dorthin strafversetzt wurden, ist in dieser lebendigen und liebenswürdigen Stadt schwer nachzuvollziehen. Aber der Schein trügt. Das Durchschnittseinkommen in der Ukraine liegt bei 250 Euro monatlich, Pensionisten müssen mit 80 bis 100 Euro überleben. Auch wenn die Preise niedriger sind als in Österreich, reicht das nicht weit. Das Gesundheitssystem ist zusammengebrochen, eine staatliche Krankenversicherung gibt es nicht mehr. Ärzte müssen in bar bezahlt werden, damit sie operieren.
Die Folge ist eine massive Auswanderungswelle. Sie setzte mit dem wirtschaftlichen Niedergang der 90er Jahre ein, als die Ukraine selbstständig wurde.2008 lebten nach Schätzung der Caritas 500,000 Ukrainer in Italien, 450,000 in Polen, je 200,000 in Spanien und Tschechien und bis zu zwei Millionen in Russland, nur etwa ein Drittel davon legal. Die Rücküberweisungen betrugen laut Weltbank 2010 mehr als fünf Milliarden Dollar. Sie tragen damit hohe 4 Prozent des Bruttosozialprodukts bei.
Die Kehrseite der Auswanderung: Nicht nur Studenten, die auf eine bessere Zukunft hoffen, verlassen das Land. Rund ein Drittel der Menschen wandern aus finanzieller Not aus, nicht zuletzt viele Mütter, die im Westen in der Alterspflege tätig sind. Zurück bleiben die so genannten „Euro-Waisen“. Es sind Kinder, die von den Grosseltern erzogen werden müssen, in Heimen untergebracht werden oder schlimmstenfalls auf der Strasse landen, mit allen damit verbundenen Problemen wie Drogensucht oder Alkoholismus. Nach Angaben der ukrainischen Caritas leben derzeit rund 150,000 Kinder auf der Strasse. Von den Arbeitsmigranten kommt laut einer Analyse der Universität Marburg nur etwa ein Viertel dauerhaft zurück. Da viele illegal in den EU-Ländern leben, können sie eine zeitweilige Rückkehr in die Ukraine nicht riskieren. Die Ukraine selber bietet den Rückkehrern kaum Hilfe an. Die Hoffnung vieler richtet sich daher auf einen EU-Beitritt des Landes.
Der EU-Beitritt gehört seit 1996 zu den Zielen Kiews. Bisher hat sich Brüssel allerdings wenig entgegenkommend gezeigt. Ein autokratisches Regime, Korruption auf allen Ebenen und die von den Machthabern abhängige Justiz sind die Hauptgründe für die Zurückhaltung der EU, vielleicht auch politische Bedenken, Moskau damit zu sehr zu provozieren. Immerhin gelang es der pro-westlichen Regierung Juschtschenko 2005, die Aushandlung eines politischen und wirtschaftlichen Assoziierungsabkommens mit der EU zu lancieren. Brüssel ist vorerst jedoch nur bereit, den wirtschaftlichen Teil des Abkommens im November in Vilnius (Litauen) bei einem Gipfel der östlichen Partnerschaft zu unterzeichnen. Der politische Teil, der u.a. die ersehnte Visumsfreiheit für die Ukrainer vorsieht, wurde auf Eis gelegt. Eine der Vorbedingungen für den Abschluss des Abkommens, die vor allem von Deutschland erhoben wird, ist die Freilassung der Oppositionsführerin Julia Timoschenko. Ausserdem verlangt die EU eine Justizreform und einen Wahlkodex.
Unter Druck ist die Ukraine auch durch Russland geraten, welches das Land in seine eigene Zollunion holen möchte. Beides zusammen geht allerdings nicht. Die Ukraine muss daher einen fast unmöglichen Spagat zwischen Moskau und Brüssel versuchen. Der russische Präsident Vladimir Putin plant bis 2015 die Schaffung einer „Eurasischen Wirtschaftsunion“, zu der bisher neben Russland auch Weissrussland und Kasachstan gehören. Nicht zuletzt die ukrainische Abhängigkeit vom russischen Gas nutzt Putin, um das Land unter Druck zu setzen. Kiew liess sich immerhin weich klopfen, einen „Beobachterstatus“ in der Zollunion zu beantragen.
Wie weit die Ukraine von westlichen Standards entfernt ist, zeigt die derzeitige politische Lage. Seit zwei Jahren wird das Land von „der Familie“ gelenkt, die es rücksichtslos ausbeutet. Gemeint ist der Clan um Präsident Viktor Janukowitsch. Die „orange Revolution“ war nur eine kurze Episode gewesen. Von der Aufbruchstimmung des Jahres 2004 ist nicht mehr viel zu spüren. „Klare Rückschritte“, nachdem Janukowitsch im zweiten Anlauf die Wahlen gewonnen hatte, diagnostiziert denn auch ein ukrainischer Journalist, der nicht namentlich genannt sein möchte. Janukowitschs „Partei der Regionen“ beherrsche alles, obwohl sie die Wahlen 2010 verloren hatte und auch mit ihrem Koalitionspartner, den Kommunisten, nicht über die Mehrheit im Parlament verfügt. Dass sie trotzdem am die Macht kam, verdankte sie einem Gerichtsurteil, laut dem das „Wahlresultat nicht festgestellt werden konnte.“ Und dies, obwohl die Opposition praktisch in allen Wahlkreisen gesiegt hatte.
Auch von einer Marktwirtschaft könne nicht wirklich gesprochen werden, meint der Journalist. Die neuen Oligarchen im Umkreis des Präsidenten haben von den wilden Privatisierungen nach dem Ende der Planwirtschaft profitiert und kontrollieren heute rund 90 Prozent der Wirtschaft. Allerdings herrscht wenig Transparenz. Die Oligarchen erwerben Unternehmen häufig über Mittelsmänner. Ausländische Bieter werden ausgeschlossen. Manche Betriebe wurden absichtlich in die Pleite getrieben, um sie nachher billig erwerben zu können. Wettbewerb ist unerwünscht.
Dass die Justiz von der Regierung zu einem willfährigen Instrument der Machthaber degradiert wurde, zeigt der „Fall Julia Timoschenko“. Der Journalist sieht in der Inhaftierung der früheren Ministerpräsidentin eine „moderne Hexenverbrennung“. Mit ihren Protestaktionen habe diese Janukowitsch 2004 eine Wahlniederlage beschert, für die er sich nun räche. Eine Ablösung des derzeitigen Regimes auf demokratischem Wege halten politische Beobachter für sehr schwierig. Zu viel stehe für die Machthaber auf dem Spiel, nicht nur politische, sondern auch massive wirtschaftliche Interessen. Von den drei Oppositionsparteien ist diejenige des Berufsboxers Klitschko am populärsten. Obwohl der zwei Meter grosse Sportler nicht mit politischer Erfahrung punkten kann, gilt er bei vielen Ukrainern heute als Hoffnungsträger. Ein zweiter „ukrainischer Frühling“ scheint aber in weiter Ferne.
Denise Cles